Vorliegendes Prachtblatt stammt aus einem aufgelösten italienischen Antiphonar des frühen 16.Jahrhunderts. Eingefasst wird der Textspiegel von einer blütenbesetzten, goldgefassten Rankenbordüre, die in einer eigenartigen Farbkombination aus Hellblau und Himbeerrot gehaltenen ist. In den ins Rankenornament eingelassenen Vierpässen erscheinen drei Propheten und ein nicht näher identifizierbarer Bischofheiliger. Ob das Rankenornament vom gleichen Buchmaler konzipiert ist, der für den Bildschmuck der Initialen verantwortlich zeichnete, bleibt gerade angesichts seines eigentümlichen Kolorits eine offene Frage. Ganz offensichtlich nimmt die im Übrigen der Illustratorenkunst der norditalienischen Renaissance verpflichtete Bildinitiale auf nordische Dekorationsprinzipien Bezug. Diese Öffnung ist auch augenfällig bezüglich der Darstellung der Beweinung Christi, welche unverkennbar Albrecht Dürers ersten 1507 datierten, und noch im Zeichen seiner eben erst abgeschlossenen Venezianer Tätigkeit stehenden Stich der Kupferstich-Passion rezipiert. Durch den Verzicht auf die stehende und ihrem Schmerz freien Lauf lassenden Magdalena der dürerschen Vorlage - die einzige nennenswerte Änderung gegenüber der nordischen Bildvorlage - und durch das zurückgenommene, vergleichsweise harmlosere Pathos hat der italienische Buchmaler der Szene eine grössere Ruhe und eine erhöhte klassische Kompaktheit verliehen. Die hier erkennbare Öffnung gegenüber der nordischen Kunst, gleich wie der Figurenstil, namentlich die abstrahierende vereinfachende Zeichnung der Gesichter, lässt darauf schliessen, dass es sich hier um ein Werk des Bolognesen Bartolomeo di Giovanni Bossi handeln könnte, der sich in erster Linie als Illustrator der späten Chorbücher für San Petronio in Bologna hervorgetan hatte und, anders als sein langjähriger Weggefährte Scipione Cavaletto, zeitlebens eine Vorliebe für die nordische Buchkunst an den Tag legte. Sein Flair für die nordische, insbesondere flämische Buchkunst ist unter anderem auch in einem kürzlich in Schweizerischen Privatbesitz gelangten Stundenbuch deutlich erkennbar, wo Bossi in den Rahmenbordüren unverkennbar flämische Vorbilder persiflierte. Zweifellos ist vorliegendes Antiphonarblatt Bartolomeo di Giovanni Bossis Spätwerk zuzurechnen, zumal Dürers Kupferstichvorlage frühestens 1507 im Umlauf war und der in Frage stehende Illustrator am 9. November 1514 bereits als verstorben gilt. Bibliographie: unveröffentlicht Gaudenz Freuler