SPOERRI, DANIEL
* 27.3.1930 Galati
Vitazeile Tänzer, Dichter, Regisseur und Objektkünstler. Tableau-piège und Objektassemblagen. Gründungsmitglied der Nouveaux Réalistes. Begründer der Eat Art Tätigkeitsbereiche Relief, Performance, Objektkunst, Plastik, Collage, Eat Art, Film, Aktionskunst, Lithographie, Multiple, Assemblage, Literatur Lexikonartikel DE | FR Als Sohn eines zum Protestantismus konvertierten Juden und der Schweizerin Lydia Spoerri in Rumänien geboren und nach lutheranischem Ritus auf den Namen Daniel Isaac Feinstein getauft.
Der Vater versucht im Auftrag einer norwegischen Mission Juden zum Protestantismus zu bekehren. Besucht zunächst die deutsche Schule von Galati, wird aber 1936 unter dem zunehmenden Einfluss des Nazismus gezwungen, zunächst an die rumänische, dann an die jüdische Schule zu wechseln, obschon er von der dortigen jüdischen Gemeinde nicht als Jude anerkannt wird. 1941 setzen in Rumänien die Pogrome ein. Spoerris Vater wird ermordet. Seine Mutter flieht mit ihren Kindern in die Schweiz. Die Familie trägt von nun an den Namen Spoerri. Daniel wird von seinem Onkel Theophil Spoerri, dem Rektor der Universität Zürich, aufgenommen. Nach dem Abbruch einer kaufmännischen Lehre und der Handelsschule schlägt er sich von 1948–1951 mit Gelegenheitsarbeiten durch. Unter anderem verkauft er in Basel Bananen und lernt dabei Jean Tinguely kennen. 1949 beginnt er in Zürich eine Ausbildung zum Tänzer. 1952 verfolgt er seine tänzerische Karriere in Paris weiter, zudem studiert er Pantomime bei Etienne Decroux. In diese Zeit fallen erste intensive Kontakte mit Eva Aeppli und Jean Tinguely. Gemeinsam mit diesem entwickelt er 1955 ein kinetisches Ballet en couleur, das sich allerdings anlässlich der Generalprobe in seine Bestandteile auflöst. 1954–57 ist Spoerri erster Tänzer am Stadttheater in Bern. Er interessiert sich für experimentelles, insbesondere für das absurde Theater und inszeniert in einem Kellertheater an der Kramgasse in Bern als deutsche Erstaufführung Eugène Ionescos Kahle Sängerin, Jean Tardieus Die Sonate und die drei Herren sowie 1956 als Welturaufführung Picassos Stück Wie man Wünsche beim Schwanz packt; das Bühnenbild gestaltet Otto Tschumi, Meret Oppenheim kreiert Masken und Kostüme. In Bern beginnt er sich, in Zusammenarbeit mit Dieter Roth und Eugen Gomringer, mit konkreter Poesie zu beschäftigen. 1957–59 ist Spoerri Regieassistent von Gustav Adolf Sellner am Landestheater in Darmstadt. Von 1957–59 gibt Spoerri zusammen mit Claus Bremer ebenfalls in Darmstadt die erste Zeitschrift für konkrete Poesie, Material, heraus; Kontakte zur Künstlergruppe Zero. 1959 ist Spoerri wieder in Paris und lanciert die Edition MAT (Multiplication d’Art Transformable), eine Edition von Multiples, für die er Marcel Duchamp, Karl Gerstner, Dieter Roth, Jean Tinguely und andere namhafte Künstler gewinnen kann. Er organisiert verschiedene Ausstellungen der Edition. 1960 ist Spoerri Gründungsmitglied der Gruppe Nouveaux Réalistes, zu der unter anderen Yves Klein, Arman, César, Tinguely und Niki de Saint-Phalle gehören. Im gleichen Jahr entstehen seine ersten plastischen Kunstwerke. Es sind Assemblagen gefundener Gegenstände, bald schon konzentriert in den ersten Tableaux-pièges (Fallenbildern), denen Spoerri seinen internationalen Ruhm verdankt. Das Prinzip der Herstellung eines Fallenbildes ist einfach: Auf einem Tischblatt, einem Stuhl, einer Schachtel versammelte Gegenstände des Alltags, mit Vorliebe die Überreste einer Mahlzeit mitsamt Geschirr, Besteck, Gläsern und vollen Aschenbechern, werden mit Leim in ihrer Lage fixiert: Das Ensemble wird durch Drehung um 90 Grad zum Tafelbild, zu einem Realstillleben, komponiert durch den Zufall. Spoerri überträgt das Prinzip des Fallenbilds auch ins Literarische: 1961–62 entsteht das Buch Topographie anecdotée du hasard. Er beschreibt darin minutiös die Gegenstände, die sich zufälligerweise am 16. Oktober 1961 um 15 Uhr 47 auf seinem Tisch befanden. Die Jahre bis 1963 bringen, zum Teil gemeinsam mit der Gruppe der Nouveaux Réalistes, eine internationale Ausstellungstätigkeit. Mit der Eröffnung des Restaurants der Galerie J in Paris manifestiert sich erstmals Spoerris tiefes Interesse an der Kochkunst, dem Verbindungsmedium zwischen Leib und Seele. 1964 und 1965 ist der Künstler mehrmals in New York; er pflegt Kontakte mit Vertretern der Fluxus-Bewegung und der Pop Art. 1967 zieht sich Spoerri für ein Jahr auf die griechische Insel Symi zurück. Dort erwacht sein ethnografisches Interesse; er verfasst ein Buch über einen lokalen Exzentriker, der sich für Gott hält, schreibt ein gastronomisches Tagebuch und schafft im Geist der synkretistisch-animistischen Urreligionen 25 Zimtzauberobjekte, Objets de magie à la noix. Die Verbindung zur Kunstwelt erhält er mit der Zeitschrift Le petit colosse de Symi aufrecht, die er an 23 Abonnenten verschickt. Im Jahr darauf eröffnet er in Düsseldorf das Restaurant Spoerri. Er kocht und serviert Elefantenrüssel, Ameisen, Tigerfilet und andere exotische Spezialitäten; das Restaurant wird zum Treffpunkt der internationalen Kunstszene. In den folgenden Jahren propagiert er die Eat Art: essbare Werke von Spoerri und seinen Künstlerfreunden (Bernhard Luginbühl, Dieter Roth, Arman, César, Niki de Saint-Phalle) gelangen anlässlich kunstvoll inszenierter Bankette zum Verzehr. Die 1970er-Jahre bringen Weiterentwicklungen des Tableau-piège, Film- und Theaterarbeit (unter anderem mit Peter Zadek und Kurt Hübner), Beteiligungen an Gruppenprojekten mit Künstlerfreunden sowie diverse Buchpublikationen. 1978 übernimmt Spoerri eine Professur an der Fachhochschule für Kunst und Design in Köln, wo er als Einstand mit Studenten ein Galadiner Hommage à Karl Marx organisiert: Namensvettern von Berühmtheiten wie Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Richard Wagner und Matthias Grünewald werden eingeladen zu einem Festessen mit Speisen, die allesamt nach berühmten Persönlichkeiten benannt sind: Bismarckhering, Schillerlocken, Tournedos Rossini, Mozartkugeln und so weiter. Mit seinen Studenten realisiert Spoerri 1979 in Köln sein Konzept des Musée sentimental: eine kulturhistorische Ausstellung, die jenseits stilistischer Rücksichten und jenseits der Grenzen akademischer Disziplinen sentimental geladene Objekte und Relikte der Stadtgeschichte versammelt. Erstmals stellt Spoerri das Musée sentimental als seinen Beitrag zu der Grossinstallation und Gemeinschaftsarbeit mit sieben Künstlern, darunter Jean Tinguely, Le Crocrodrome de Zig et Puce, 1977 im Centre Pompidou, Paris, vor: Brancusis Fingernägel, Ingres’ Violine, Severinis Mütze, Matisses Fotoapparat bringen eine andere Geschichte der Kunst zur Anschauung. In den 1980er-Jahren organisiert Spoerri thematisch-konzeptuelle Ausstellungen und künstlerische Aktionen, stets in Zusammenarbeit mit Studenten der Kunsthochschulen, an denen er gerade lehrt. Daneben entwickelt er seine plastische Arbeit weiter. Es entstehen Objektassemblagen und die Serie der Détrompe-l’œil, worin Spoerri Erzeugnisse der Volkskunst und des Massenkitsches durch Applikation verfremdender Objekte in surrealistischer Tradition überhöht. Dazu kommen Rezeptmappen (bibliophile Editionen von Kochrezepten, illustriert von Künstlerfreunden), Künstlerpaletten (Fixierung der Arbeitstische befreundeter Künstler) sowie verschiedene thematische Serien von Bronzeguss-Objekten. Ankäufe internationaler Museen und weltweite Retrospektiven seines Werks festigen seit den 1980er-Jahren Daniel Spoerris Position als zentrale Figur der europäischen Nachkriegskunst. Häufige Wechsel von Wohnort und Lebensmittelpunkt begleiten Spoerris Aktivitäten, zeitweise lebt er im Tessin, am Zürichsee, in München, Paris und in der Toskana. In Seggiano, südlich von Siena, gründet er 1997 den Skulpturenpark Il Giardino di Daniel Spoerri, wo er eigene Werke und die von Kunstschaffenden aus seinem Umfeld zeigt. Sein Interesse für prähistorische Kulturen, volkskundliche und ethnologische Themen manifestiert sich auch in neueren Arbeiten – unter anderem in der Beschäftigung mit urslawischen Gottheiten, aus der eine Serie von rätselhaften, aus Bruchstücken zusammengebauten, archaischen Bronzefiguren hervorgeht (Prillwitzer Idole, 2006–08). 2007 Umzug nach Wien. 2009 Eröffnung des Kunststaulager Spoerri bei Krems, Niederösterreich, ein Veranstaltungsort für Wechselausstellungen mit Künstlerfreunden, Lagerhaus für Spoerris diverse Objektsammlungen und seine umfassende Kochbuchbibliothek sowie einem Esslokal. 2001 Retrospektive im Museum Tinguely, Basel. Zu seinem 80. Geburtstag 2010 finden in verschiedenen Städten in Österreich, Deutschland, Italien und der Schweiz Retrospektiven statt. 2012 Einzelausstellung im Naturhistorischen Museum Wien. Das im engeren Sinne bildkünstlerische Werk Daniel Spoerris lässt sich verstehen als stetige Weiterentwicklung des Fallenbilds. Dieses, inspiriert von Marcel Duchamps Idee eines anonymen Kunstwerks, war nicht zuletzt auch eine Geste des Protests gegen die in den späten 1950er-Jahren dominanten künstlerischen Strömungen der ästhetisierenden und psychologisierenden Malerei des Abstrakten Expressionismus, des Informel und der Deuxième Ecole de Paris. Spoerri variiert den Einfall in der Folge zum erweiterten Fallenbild (die Werkzeuge zur Herstellung werden auf dem Bild mitbefestigt), er delegiert die Ausführung des Fallenbildes, er kippt einen ganzen Raum mit allem Inventar zum Fallenbild (1962, Stedelijk Museum, Amsterdam); das falsche Fallenbild wird bewusst arrangiert, Wortfallen verbildlichen metaphorische Redewendungen, das Détrompe-l’œil montiert desillusionierende Alltagsobjekte auf illusionistische Kunstwerke: Schliesslich erweitert er das Fallenbild zu Objektassemblagen. Die Durchschlagskraft des Fallenbildes legt nahe, Spoerris künstlerisches Schaffen darauf zu reduzieren. Sein Werk, und darin liegt seine Bedeutung, umfasst aber weit mehr. Die Vielfalt seiner Talente beschränkt sich nicht auf ein Medium und auch nicht auf die bildende Kunst. Seine Rolle als Pionier des absurden Theaters und der konkreten Poesie ist nicht eine blosse Vorstufe zum eigentlichen Durchbruch als bildender Künstler. Vom Tanz und Theater stammen seine Liebe zum Ereignishaften, Realzeitlichen und Ephemeren sowie die Neigung zum grossen künstlerischen Gemeinschaftswerk. Sie bildet den Gegenpol zur Faszination durch das Dinghafte, das Objekt, und konkretisiert sich in unzähligen Aktionen, oft gemeinsam mit Künstlerfreunden oder Studenten durchgeführt. Auch hierin ist Spoerri Pionier. Er hat Ernst gemacht mit dem Postulat der Auflösung der atomaren Künstlersubjektivität im Gemeinschaftswerk. Davon zeugt die imposante Liste von Künstlern, Literaten, Regisseuren, die Spoerri inspirieren und motivieren und mit denen er in der Folge gemeinsame Projekte verwirklicht. Wie bei Joseph Beuys ist auch bei ihm die Lehrtätigkeit an den Kunstakademien stets kreativer Prozess. Spoerri hat seine geistige, kulturelle und soziale Heimatlosigkeit zu seinem Kapital gemacht. Stets bereit, Erreichtes aufs Spiel zu setzen und von vorne zu beginnen, wird er zu einer eminent wichtigen Vermittlerfigur. Nicht zufällig beginnt er seine Karriere in der bildenden Kunst mit der Edition MAT, das heisst als Ausstellungsorganisator, als Kunstvermittler; nicht zufällig hat seine Idee des Musée sentimental viele Ausstellungsmacher begeistert und beeinflusst. Spoerri wird durch seine Kontakte zu Zero, zu den Nouveaux Réalistes, zu Fluxus, zur Pop Art und zum Wiener Aktionismus zu einer der wichtigen Integrationsfiguren der internationalen Nachkriegskunst. Er verknüpft in der langen Reihe seiner mannigfaltigen Aktivitäten zwanglos Literatur, Tanz, Pantomime und Theater, Gastronomie, kulturhistorische und ethnografische Forschung mit der bildenden Kunst, und er stellt zahllose befruchtende Kontakte zwischen Dutzenden von Künstlern seiner Generation her, über alle Grenzen von Gattungen, Schulen, Stilen, Cliquen und Ländern hinweg. Werke: Amsterdam, Stedelijk Museum; Antibes, Musée Picasso; Basel, Öffentliche Kunstsammlung, Kunstmuseum; Budapest, Museum Ludwig, Genève, Musée d’art moderne et contemporain (MAMCO); Hadersdorf am Kamp (A), Kunststaulager Spoerri; Ingoldstadt, Medizinhistorisches Museum; Hannover, Kestner-Gesellschaft; Köln, Museum Ludwig; Krefeld, Kaiser Wilhelm Museum; Milly-la-Forêt (F), Le Cyclope; Mönchengladbach, Städtisches Museum Abteiberg; Marseille, Musée Cantini; New York, The Museum of Modern Art; Paris, Musée national d’art moderne, Centre Georges Pompidou; Seggiano (I), Il Giardino di Daniel Spoerri; Sidney, Museum of Contemporary Art; Kunstmuseum Solothurn; Stockholm, Moderna Museet; Wien, Museum Moderner Kunst, Stiftung Ludwig, Sammlung Hahn; Kunsthaus Zürich. Quellen: Bern, Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Tobia Bezzola, 1998, aktualisiert 2012 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4001639
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