SOUTTER, LOUIS
* 4.6.1871 MORGES, † 20.2.1942 BALLAIGUES
Maler und Zeichner. Cousin von Le Corbusier.
Louis Soutters Leben verläuft anfänglich wie das eines Kleinmeisters der Malerei. Geboren am 4. Juni 1871 in Morges bei Lausanne als Sohn eines Apothekers und einer Musikerin, lässt er sich 1895 in Genf bei Léon Gaud, einem Schüler von Barthélemy Menn, in Zeichnung und Malerei unterweisen. Im gleichen Jahr reist er nach Paris und setzt sein Studium in den Ateliers von Jean-Paul Laurens, Jean-Joseph Benjamin-Constant, Emmanuel Frémiet und Filippo Colarossi fort. Als begabter Geigenspieler war er zuvor Schüler von Eugène Ysaÿe in Brüssel gewesen, wo er seine spätere Frau kennenlernte, Madge Fursman, auch sie eine Violinistin aus Colorado Springs in den Vereinigten Staaten. Dahin übersiedelt das Paar 1897. Im Folgejahr wird Louis Soutter, der Malerei unterrichtet, Leiter der Abteilung für schöne Künste am Colorado College.
1902 dann die Zäsur: Soutter lässt alles im Stich – Familie, Karriere, Wohlstand –, um in die Schweiz zurückzukehren und von Zeit zu Zeit als Geiger aufzutreten. Im Übrigen führt er ein Dasein als Herumtreiber, dem 1923 mit seiner frühzeitigen Einweisung in das Altenheim von Ballaigues im Waadtländer Jura ein Ende gesetzt wird. Dort verbringt er die knapp zwanzig weiteren Jahre seines Lebens. Todunglücklich an diesem Ort, lehnt er sich gegen sein Schicksal auf und setzt sich oft für lange Zeit ab, zu Freunden oder Gelegenheitsgastgebern. Der soziale und psychische Zusammenbruch, den die Einweisung bezeugt, macht sich noch stärker im zeichnerischen Schaffen bemerkbar: Soutter bricht vollständig mit dem konventionellen Stil seiner glücklicheren Jahre. Unter radikal anderen Voraussetzungen beginnt er von vorn und erarbeitet im Versteckten, mit behelfsmässigen Mitteln ein höchst subjektives Werk, allein für ihn selbst, in Schulheften, die er in seinem Zimmer im Heim hortet – und die zuweilen verwendet werden, um im Ofen einzufeuern.
Wenn es ihm an Material mangelt, geht Soutter ins Postamt von Ballaigues zeichnen und steht bei der Kreisdirektion bald im Ruf, der grösste Tintenverbraucher des ganzen Bezirks zu sein. Die Kompositionen der ersten Jahre in Ballaigues, der sogenannten «Periode der Hefte» (1923–1930), bilden eine Art schwarze Mythologie, eine Verschränkung von biblischen, luziferischen, dantesken oder Shakespeare’schen Themen, wie sie von den häufig hochpoetischen Titeln der Zeichnungen oder der Hefte, denen sie entnommen sind, evoziert werden: L’âme qui s’en va du seuil des fleurs au cycle des pierres noires [die Seele, die sich von der Schwelle der Blumen in den Zyklus der schwarzen Steine begibt], oder Cahier d’Arbres du rêveur et du Refuge unique de l’Esprit [Heft mit Träumerbäumen und dem einzigartigen Zufluchtsort des Geistes].
Es ist augenfällig, dass Soutter seine Motive nicht vorbereitet, sondern feine Texturen anlegt, die, indem sie sich durchdringen und subtil miteinander verbinden, zufällige Figuren und Szenen hervorbringen. Der Anteil des Autors besteht lediglich darin, durch die bildmässige Vollendung sein Einverständnis zu bezeugen. Ein solches Universum, das durch Metamorphosen, Assoziationen und Verdichtungen der Formen gekennzeichnet ist, gehorcht offensichtlich der Logik von Traum oder Wahn. Wenngleich das Werk sich aus einem ganz persönlichen Impuls und im Verborgenen entfaltet, so erfahren davon schliesslich doch einige Künstler, die seinen Wert erkennen: Da ist zunächst Soutters Cousin Le Corbusier, der ihn durch Ausstellungen in den vereinigten Staaten bekanntzumachen versucht und der eine – von der Fondation Le Corbusier leider zerstreute – Sammlung von 429 Zeichnungen und sechs illustrierten Büchern zusammenträgt; dann der Schriftsteller Jean Giono, der Jean Dubuffet mit seiner Begeisterung ansteckt; der Schriftsteller Jean-Ferdinand Ramuz, der beabsichtigt, Soutter mit der Illustration seines Romans Si le soleil ne revenait pas (Wenn die Sonne nicht mehr wiederkäme) zu beauftragen; René Auberjonois, ein ehemaliger Mitschüler Soutters an der Lausanner Ecole industrielle. Ihre Ermutigung und ihre freundschaftliche Verbundenheit sind bestimmt nicht unbeteiligt an der stilistischen Weiterentwicklung während der sogenannten «manieristischen Phase» (1930–1936).
Soutter wird sich offenbar seines zeichnerischen Könnens bewusst, wählt grössere Formate und nimmt sich noch mehr Freiheiten gegenüber den Gesetzen der Figuration heraus. Er konzentriert sich auf einige wenige Themen, die er obsessiv entwickelt, wie wenn er versuchte, die zugrundeliegenden Überspanntheiten herauszuarbeiten. Vase, fleurs autohiératiques (Vase, selbstgeheiligte Blumen) bezeichnet er unten ein um 1933 entstandenes Stillleben, als ob die Blütenblätter eine schändliche Wahrheit verbergen würden. Allem Anschein nach ist Soutter fasziniert von Kreaturen, mit seinen Worten «die ohne Gott», die offensichtlich erotischen Fantasien entstammen: SD, nos tignasses frissonnent (SD, unsere zerzausten Schöpfe erschauern), Je me dévêts [Ich ziehe mich aus], Pudicité, l'attrait, le fasciné, les inquiétudes [Schamhaftigkeit, die Verlockung, der Bezauberte, die Beunruhigungen] (alle um 1935). Zweifellos sind es Motive wie diese, die ihm in der Anstalt von Ballaigues den Ruf eines «pornografischen Verrückten» eingetragen haben. Aus menschlichen, architektonischen oder pflanzlichen Formen entwickelt der Zeichner schablonenhafte oder archetypische Figuren, denen eine tief greifende psychische Erregung anzumerken ist (Nature puissante, roses / Mächtige Natur, Rosen, um 1930; Ah respirons la sève / Ah, lasst uns den Saft einatmen, um 1935). Sich von der Funktion objektiver Beschreibung befreiend, gewinnt die Linie einen Eigenwert, als ob es gälte, das Erscheinungsbild durch Zergliederung oder Verschmelzung zu dekonstruieren, damit daraus eine verborgene Wahrheit hervortrete. Die Wenigen, die Soutter bei der Arbeit gesehen haben, berichten, dass er abwechselnd mit der rechten und mit der linken Hand zeichnete.
Gewiss beabsichtigte Soutter, sich nach dem Vorbild von Malern wie Raoul Dufy oder Paul Klee auf diese Weise von zeichnerischen Automatismen zu befreien. Aber vielleicht hat er in diesem Wechselspiel auch eine psychophysische Schwingung gesucht, die «präontologische» Bilder zu erzeugen vermag. So deutet er es jedenfalls in einem merkwürdigerweise mit der linken Hand von links nach rechts geschriebenen Text an: «Der Zweck dieses Versuchs besteht darin, das Hirn stärker ins Gleichgewicht zu bringen und neue Ideen, bis heute unvorhergesehene Ereignisse hervorzurufen. Die Radiophonie ist eine Funkwelle, die neue und vollkommenere Gehirne wahrnehmen können» (um 1930, auf der Rückseite der Zeichnung Au Bar / In der Bar). Um 1937 leidet Soutter an einer Schwächung seiner Sehkraft und Arthrose in den Fingern, was ihm das Zeichnen mit Bleistift und Feder verbietet.
Doch das, was als Gebrechen hätte erfahren werden können, wird ihm zum Anlass, im Alter von 66 Jahren sein bildnerisches Vokabular vollständig zu erneuern. Seit da trägt Soutter die Tusche direkt mit dem Finger auf, dessen er sich wie eines Pinsels aus Fleisch und Blut bedient, indem er den Bewegungsimpuls zum Ellenbogen hin verlagert und dabei den Körpereinsatz verstärkt. Gleichzeitig beschränkt er sich zunehmend auf das reine Zeichen, in einem dramatischen Spiel mit dem Kontrast von Schwarz und Weiss. Unterschiedslos können Konturen in Schwarz auf Weiss gelegt sein oder umgekehrt; das wechselt bisweilen in derselben Zeichnung, wie um das unauflösbare Entweder-oder eines «tragischen Strukturalismus» zu verschärfen (Forge sacrée / Heilige Schmiede, um 1940; M, um 1940).
Es kommt immer noch vor, dass sich der Künstler von Alltagsszenen oder von undeutlichen quälenden Erinnerungen inspirieren lässt, aber nur, um sie in den Bereich des Irrealen zu versetzen, wo sie einen mythischen Charakter annehmen. Man spricht von «Fingermalerei», um diese letzte Schaffensphase, von 1937 bis zum Tod des Künstlers, zu benennen. Es ist schwierig, Soutters Werk einer künstlerischen Strömung zuzuordnen. Jean Dubuffet war versucht, es dem zuzurechnen, was er Art Brut nannte, zumindest die Fingermalerei erachtete er als frei von jeglichem kulturellem Erbe.
In den vorausgegangenen Zeichnungen nicht zu übersehen sind Reminiszenzen an die romanische Kunst, wie sie der Künstler in Payerne oder Romainmôtier sehen konnte, oder an den Symbolismus und die Art nouveau, die ihn seit seinen Pariser Jahren geprägt hatten – obschon er dergleichen auf einzigartige Weise interpretierte. Er verfuhr damit wie mit den «Kopien» klassischer Werke (namentlich von Giotto, Vittore Carpaccio, Raffael, Rembrandt, Nicolas Poussin, Gustave Courbet, von 1925 bis 1935), die bei einem Künstler, der sich kaum an der Tradition orientierte, wie ein höchst ausgefallenes Genre wirken. Aber gerade daran wird deutlich, dass sich Soutter zwanglos formale Elemente aneignet, die ihm geeignet erscheinen, ganz persönlichen Regungen Gestalt zu verleihen – ohne Rücksicht auf die Bedeutung, die sie in den angestammten Kontexten haben mögen (man könnte solche Zweckentfremdungen mit der psychoanalytischen Praxis der «freien Assoziation» vergleichen.) Ist der auf die Internierung in Ballaigues folgende stilistische Bruch als Ausdruck einer Geisteskrankheit zu erklären? Soutter hat keine Psychoanalyse nötig, weil er ihr im Reich der Imagination vorgreift.
In vielen Zeichnungen sind figurative Umdeutungen und unerwartete Verzweigungen auszumachen, wie ein Traum entwickelt sich das Bild über zeichnerische Erweiterungen und durch zufällig entstehende Kombinationen von Tintenstrichen oder Fingerspuren. Auf diese Weise entkräftet Soutter die objektive Welt und lässt daraus urtümliche Figuren oder mit archaischen körperlichen Phantasmagorien verknüpfte «präfigurative» Schemen daraus aufsteigen. Gleich wie «Tagesreste» dem Individuum Anlass für Träume werden, bezieht sich der Zeichner nur deshalb auf Objekte oder Figuren, um psychische Regungen, befriedigende oder destruktive, zu veranschaulichen: Schützende Umhüllung, lustvolles Schweben, seliges Verschmelzen, sogartige Bedrohung, Einkerkerung in einen Raum, hauchzarte Gefüge, implodierende Leere, Auflösung – lauter zeichnerische Variationen, die uns zu etwas hinführen, was als «körperliches Unbewusstes» betrachtet werden könnte. Über alles Anekdotische hinaus rufen solche Kompositionen eine gleichsam reflexartige Einfühlung hervor (L’amour est un fil de soie ou qu’on noue ou qu’on coupe [Die Liebe ist ein Seidenfaden, den man entweder knüpft oder durchtrennt]), notiert er auf der Rückseite einer Zeichnung, die offenkundig aus einer feinen Tintenlinie entstanden ist, L’amour, fil de soie, um 1935).
Insofern hat Soutter Zugang gefunden zur geheimen Sprache seines Begehrens und ihr gleichzeitig eine universelle Bedeutung verliehen. Dieses zeitlose Werk, das zu Lebzeiten des Künstlers nahezu unbekannt geblieben ist, erfuhr nach dessen Tod ein ebenso aussergewöhnliches Schicksal. Zunächst weckte es das Interesse von Psychiatern. 1945 erwog Jean Dubuffet, ihm das erste der Cahiers de l’Art Brut zu widmen, doch verzichtete er darauf, als er – hauptsächlich in Schweizer psychiatrischen Kliniken – Schöpfungen entdeckte, die der künstlerischen Kultur noch fremder waren. Die zahlreichen Ausstellungen, die auf die erste Retrospektive 1961 im Lausanner Musée cantonal des Beaux-Arts folgten, waren darauf aus, eine Verwandtschaft etwa mit den Zeichnungen von Victor Hugo oder dem Spätwerk von Paul Klee herzustellen beziehungsweise eine Vorwegnahme des Action Painting, der Figuration libre oder der Transavantgarde festzuschreiben.
Die 2003 gleichzeitig und komplementär vom Musée cantonal des beaux-arts und der Collection de l’Art brut in Lausanne ausgerichtete bedeutendste Retrospektive war bestrebt, Soutter einerseits restlos in die Geschichte der modernen Kunst einzubinden (insbesondere wegen seiner Affinität zum Symbolismus und Expressionismus) und andererseits seine Nähe zur Art Brut herauszuarbeiten. Derartige Kontroversen stellen noch heute klar heraus, wie komplex und von Paradoxen getrieben Soutters Schaffen ist, das zwar aus einem nahezu autistischen Rückzug auf das Persönliche entstanden ist, aber gerade dadurch auch höchst empfänglich wurde für die Schwingungen der avantgardistischsten Strömungen des 20. Jahrhunderts.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Michel Thévoz, 2016 Übersetzung: Regula Krähenbühl https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4022841
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