DISLER, MARTIN
* 1.3.1949 SEEWEN, † 27.8.1996 GENF
Maler, Zeichner, Plastiker und Schriftsteller.Martin Disler wächst in Seewen (SO) auf, wo seine Eltern eine Gärtnerei betreiben. 1962–1968 Schüler im katholischen Internat von Stans. Wegen wiederholter nächtlicher Abwesenheit und anderer Disziplinarverstösse wird er vom Internat verwiesen. 1969 erstes Atelier in Solothurn, gemeinsam mit der Malerin Agnes Barmettler, die er später heiratete. Sechs Monate als Krankenpfleger in der psychiatrischen Klinik Rosegg, Solothurn.
1970 in Olten, Teilzeitarbeit am Kellertheater. Erste grafische Arbeiten. Grafikerpreis des Kantons Solothurn. 1971–1978 wohnhaft in Dulliken bei Olten. 1971 erste Einzelausstellung in der Kunstzone München und in der Galerie Delphin in Olten. 1972 Teilnahme an der Ausstellung La Blessure im Musée Rath in Genf. 1973 Studienaufenthalte in Paris und Bologna. 1974–1975 mehrere Reisen nach Italien. 1975 Biennale des Jeunes in Paris. Kiefer-Hablitzel-Stipendium 1976, 1977 und 1979. 1977 gemeinsam mit Rolf Winnewisser Studienreise in die USA. 1978–1981 Atelier in der Roten Fabrik, Zürich; Zusammenarbeit und Freundschaft mit der Künstlerin Klaudia Schifferle.
1980 Einzelausstellung Invasion durch eine falsche Sprache in der Kunsthalle Basel. Es erschienen die Texte Bilder vom Maler (autobiografischer Roman) und Der Zungenkuss. Ab 1981 Reisen in Europa und in den USA. Ateliers in Paris, New York, Lugano und Harlingen (NL). Ab 1981 lebt und arbeitet Disler mit der holländischen Künstlerin Irene Grundel zusammen, die er 1980 kennenlernt und später heiratet. 1983 Einzelausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam und im Museum für Gegenwartskunst in Basel. 1985 Bremer Kunstpreis. 1987 Preis für junge Schweizer Kunst der Zürcher Kunstgesellschaft. 1988 Kunstpreis des Kantons Solothurn. Ab 1988 Wohnsitz in Les Planchettes in der Nähe von La Chaux-de-Fonds.
1991 Museum of Desire. Druckgraphik aus den Jahren 1990 und 1991 in der Albertina in Wien. Häutung und Tanz, 66 Bronzeskulpturen in der Whitechapel Art Gallery in London 1991, anschliessend in der Kunsthalle Basel, im Lenbachhaus in München, in Duisburg und in Bellinzona. Skulpturen 1985 bis 1995 in der Kunsthalle in Emden 1995. Im Frühjahr 2004, acht Jahre nach Dislers Tod, publiziert das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft, Zürich und Lausanne, eine Web-Dokumentation mit einer Werkdatenbank.
2007 Einzelausstellung Von der Liebe und anderen Dämonen. Martin Disler: Werke 1979–1996 in Aargauer Kunsthaus Aarau. Im selben Jahr erscheint die grosse Monografie Martin Disler 1949–1996, herausgegeben von Franz Müller.
Todesantizipationen durchziehen Martin Dislers gesamtes Werk. Lebenshunger und Todespräsenz sind Kennzeichen einer ganzen Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die zu Beginn der 1980er-Jahre den postmodernen Bilderstreit auslösten. Martin Disler, Klaudia Schifferle und Miriam Cahn gehören 1982 zu jenen Schweizer Kunstschaffenden, die Rudi Fuchs für die documenta 7 in Kassel auswählt, zusammen mit Vertretern der Neuen Wilden aus Deutschland und Italien. Ungestüm und fern aller Theorie, aber öfters begleitet von literarischen Texten von einer urtümlichen Kraft, stellt dieser Neo-Expressionismus den bisherigen bildanalytischen, aufklärerischen Positionen der Konzeptkunst einen impulsiven, subjektiven Gestus entgegen und ermöglicht damit eine Renaissance der mehrfach als überholt erklärten Malerei. Ihre Spontaneität erlaubt es, verborgene Energieströme und verdrängte Sinnlichkeit für die Kunst zurückzufordern
Was sich in den 1970er-Jahren bei Martin Disler vornehmlich in der Zeichnung vorbereitet hat, entwickelt sich weiter zu raumgreifenden Malaktionen und Installationen mit programmatischen Titeln (Invasion durch eine falsche Sprache, 1980; Die Umgebung der Liebe, 1981; Öffnung eines Massengrabes, 1982). Dies brachte ihm – Mitte dreissig – internationale Resonanz neben Künstlern wie Sandro Chia, Francesco Clemente und Georg Baselitz. Spielt die Plastik bis zu diesem Zeitpunkt neben Malerei, Zeichnung und Druckgrafik eher eine sekundäre Rolle, erhält sie ab 1985 zunehmende Bedeutung.
In der Ausstellung Das Gedränge der Götter. Der Wucher des Menschen bevölkert Disler 1987 den barocken Tanzsaal des Palais Liechtenstein in Wien mit elf «ungebetenen Gästen»: «Die Plastiken (meine Sprache mit den Toten zu sprechen) – helle Geschöpfe in dunkler Nacht (die Sendboten meiner Freiheit und Mitinsassen meiner Gefängniszelle) – sie sind die vielen Dimensionen, die sich zusammentun, um das Licht zu tragen auf ihrer Haut, die der mikroskopischen Natur der Seele nacheifert [...]». Bei der Ausstellung Häutung und Tanz 1991 treten 66 Bronzefiguren von höchster Expressivität in einen raumgreifenden Dialog: ein ekstatischer Tanz der Verwandlung.
Das Schreiben ist für Martin Disler von grosser Bedeutung. Über ein Dutzend Künstlerbücher versieht er mit Texten. Mit dem 1980 erschienenen Roman Bilder vom Maler wird seine ausserordentliche Sprachkraft deutlich, die von nun an das bildnerische Schaffen regelmässig und mit einer schmerzenden Eindringlichkeit begleitet. Mehrere Romane und Erzählungen bleiben unpubliziert, weil sie seiner eigenen Kritik nicht standhalten. Schreiben wird in den letzten fünf Jahren zu einer zentralen Beschäftigung. Zum Hauptinterpreten seines Werkes wird der griechische Schriftsteller Demosthenes Davvetas, der in das Geflecht von Martin Dislers Dämonologie einzudringen versucht.
Martin Disler ist bis zu seinem Tod auf der Suche nach einem neuen Körper, auf der Suche nach Durchbruch, Öffnung, Verwandlung und Entgrenzung. Die Dimension des Todes ist ihm wie keinem anderen Künstler der Gegenwart vertraut. Viele der letzten Aquarelle beziehen sich auf die mit dem Tod sich beschäftigenden Esoterischen Gedichte des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa. Auf dieser «nassen Reise» ins «Innere der Dinge» nimmt er endgültig Abschied. Als markante Spur ist sie fassbar in den von Dieter Koepplin auswahlweise publizierten 388 letzten Aquarellen und in zahlreichen nachgelassenen Manuskripten.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Andreas Meier, 2004, aktualisiert 2011 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000226
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